Das hätten wir uns nicht träumen lassen

Public Health-Experte Hans-Peter Hutter über ein wenig ausgeprägtes Verständnis von Wissenschaft in Österreich, die COVID-19-Krise als Chance sowie die Erfahrung, dass die Politik im Fall des Falles rigide Entscheidungen trifft und durchzieht.

Im Zuge der COVID-19-Krise hat sich deutlich gezeigt, dass in der breiten Öffentlichkeit nur ein geringes Verständnis über Arzneimittelforschung besteht. Wie schätzen Sie das Wissen der ÖsterreicherInnen auf dem Gebiet ein?

Wie in vielen anderen wissenschaftlichen Bereichen ist das Wissen der Bevölkerung über Arzneimittelforschung und -entwicklung ziemlich gering. Das zeigt sich aktuell besonders plastisch in der Diskussion über die COVID-19-Impfungen. Es ist klar, dass nicht jeder weiß, was eine Phase III-Studie ist oder wie die Zulassung erfolgt. Aber dass auch kein Grundverständnis besteht, was Wissenschaft ausmacht, ist schon erschütternd. Es ist praktisch kaum bekannt, wie Wissenschaft arbeitet, welche Methoden zum Einsatz kommen, wie Untersuchungen gemacht werden und dass Studienergebnisse erst nach einer Begutachtung (Peer Review) in einer Fachzeitschrift veröffentlicht werden können. Das hat leider auch zur Folge, dass sich in so einer Situation einige in der Öffentlichkeit als WissenschaftlerInnen darstellen können, die kaum oder keine Publikationen in Fachzeitschriften vorweisen können. Gleichzeitig ist diese Pandemie aber auch eine Chance, Wissenschaft an sich stärker ins gesellschaftliche Licht zu rücken und zu erklären.

Wo müsste dabei Ihrer Meinung nach angesetzt werden?

Vor allem in der Art der Präsentation von Wissenschaft. ExpertInnen werden mit hoch gestochener Fachsprache die Menschen nicht erreichen. Es ist wichtig, die Adressaten im Blick zu haben. Viele sind fachfremd oder haben ein anderes Bildungsniveau. Wenn ich von ihnen verstanden werden möchte, muss ich einen anderen Weg gehen. Das ist zweifellos eine Herausforderung, denn es ist nicht einfach, wissenschaftliche oder komplizierte Fakten in ihrer ganzen Differenziertheit zu transportieren. Da braucht es Mut zur Lücke, Mut zur Unschärfe und letztlich auch Mut zur Verkürzung. Egal, ob in einem Zeitungsinterview oder in einem Fernsehbeitrag – man muss rasch zum Punkt kommen. Entweder man traut sich die Botschaft möglichst gut zu verkürzen oder jemand anderer macht’s, der sich vielleicht nicht so gut auskennt, oder die Botschaft wird gar nicht gebracht.

Welche Mythen und Missverständnisse gibt es über Arzneimittelforschung und -produktion im besonderen Fall von COVID-19?

Oh, da gibt es eine Reihe kursierender Missverständnisse. Ein gutes Beispiel ist die Entwicklungsdauer für einen Impfstoff. Es ist bekannt, dass unter normalen Umständen die Entwicklung im Mittel zehn bis zwölf Jahre braucht, und nun werden im Fall von COVID-19 nach einem dreiviertel Jahr die ersten Impfstoffe auf den Markt gebracht. Da ist es aufgelegt, dass Gerüchte entstehen, dass Vermutungen über mögliche Mauscheleien zwischen Pharmaindustrie und Behörden angestellt werden und dass so Befürchtungen geweckt werden, dass uns ein unreifer Impfstoff serviert wird. Folglich muss man die Abläufe erklären und deutlich machen, warum in diesem Fall eine Beschleunigung möglich war. Das heißt, man muss diese Zulassungsprozesse begreiflich machen (Stichwort Rolling Review-Verfahren) und etwa auf die bereits vorher vorhandenen Forschungsgrundlagen eingehen – und zwar frühzeitig und proaktiv. Wenn Falschinformationen einmal über Social Media quasi viral kursieren, hat man kaum noch eine Chance sie „einzufangen“ bzw. richtigzustellen.

Die Pharmaindustrie kann dafür Unterlagen bereitstellen. Aber ob sie sich in die erste Reihe stellen sollte, ist für mich fraglich. Viele werden daran zweifeln, dass sie völlig objektiv und uneigennützig argumentiert. Es ist auch gewissermaßen nachvollziehbar, dass jemand, der von seinem Produkt überzeugt ist, nicht ganz unbeeinflusst argumentieren kann. Daher sollten diese „Erklärfunktion“ glaubwürdige, unabhängige Stellen übernehmen, die ohne Interessenskonflikte transparent und weisungsfrei kommunizieren können. In den USA ist das ein Expertenrat. Bei uns könnte das etwa der oberste Sanitätsrat übernehmen.

Welche Rolle spielt hier Public Health?

Public Health-ExpertInnen haben die Aufgabe, das Ganze im Blick zu behalten. Am konkreten Beispiel: Die jetzt viel diskutierte Impfung gegen COVID-19 ist nur eine sehr, sehr wichtige Säule der Public Health-Strategie neben anderen Maßnahmen der Vorsorge und Infektionsbekämpfung (u.a. Contact Tracing, gezieltes Testen). Aber etwa aus psychosozialer Sicht gibt es eben auch andere Schwerpunkte als von rein epidemiologischer Warte aus gesehen. Gegen die Ausbreitung des Virus ist es vielleicht am besten, alles lange Zeit komplett zu schließen. Doch für die Bildung, die Entwicklung unserer Kinder und unsere Arbeitswelt ist das eine Katastrophe. Also braucht es einen durchdachten (Mittel)Weg, eine differenzierte Sicht der Dinge.

Was sind für Sie Learnings aus der Krise für künftige, vergleichbare Situationen?

Die wichtigste Erfahrung war: Die Politik hat gezeigt, dass sie rigide Entscheidungen treffen und harte Maßnahmen umsetzen kann – unter Einbeziehung wissenschaftlicher ExpertInnen. Das hätten wir uns vorher in dieser Form nicht träumen lassen, und das wäre beispielsweise bei Klimaschutzmaßnahmen immer noch undenkbar. Obwohl es haufenweise wissenschaftliche Evidenz dafür gibt. Mit dieser Erfahrung hoffe ich, dass in Zukunft auch in anderen Bereichen – eben etwa im Klima- oder Biodiversitätsschutz – Maßnahmen ebenso konsequent umgesetzt und wissenschaftlich begleitet werden.

OA Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dipl.-Ing. Dr. med. Hans-Peter Hutter studierte Landschaftsökologie und Landschaftsgestaltung an der Universität für Bodenkultur sowie Medizin an der Universität Wien. Zunächst war er mehrere Jahre als Physikatsarzt im öffentlichen Gesundheitswesen in Wien tätig (Institut für Umweltmedizin). 2005 wurde er Facharzt für Hygiene und Mikrobiologie mit Schwerpunkt Umwelt- und Präventivmedizin, seit 2015 ist er stellvertretender Leiter der Abteilung für Umwelthygiene und Umweltmedizin am Zentrum für Public Health (ZPH) der Medizinischen Universität Wien.