Wie lässt sich der Europäische Gesundheitsdatenraum verwirklichen?
Wenn die Vision der EU mehr als nur ein Traum sein soll, müssen Taten folgen – und zwar in Form einer Vereinbarung zwischen den 27 EU-Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament.
Angespornt durch die Digitalisierung des Gesundheitswesens während der COVID-19-Pandemie hat die EU-Kommission ihren jüngsten Plan für einen Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) als „bahnbrechend“ vorgestellt. Dieser soll „der EU zu einem Quantensprung in der Art und Weise verhelfen, wie die Gesundheitsversorgung der Menschen in ganz Europa erfolgt“.
Ein Blog von Stefano Santangelo, Managing Director MSD in Tschechien.
In der Tat hat der EHDS-Vorschlag viel Beifall geerntet, nicht zuletzt wegen seines ehrgeizigen Umfangs. Er soll es den Patient:innen ermöglichen, auf ihre Gesundheitsdaten zuzugreifen, beispielsweise über ihre Smartphones, und diese frei mit Gesundheitsdienstleistern in ganz Europa auszutauschen. Damit könnte man die Erforschung neuer Therapien beschleunigen und Milliardenbeträge in den Gesundheitssystemen freisetzen, welche wiederum effizienter zur Verbesserung der Leben von Patient:innen einsetzbar wären.
„Der Vorschlag verspricht aber sogar noch mehr: nämlich das Wachstum der europäischen Wirtschaft zu fördern. Und er zielt darauf ab, Europa dabei zu helfen, die wachsende Innovationslücke in Wissenschaft und Wirtschaft zu den USA und zunehmend auch zu China zu schließen und seine Position als „Powerhouse“ wiederzubeleben.„
Der EHDS als „Powerhouse“ oder wie es Stella Kyriakides, EU-Kommissarin für Gesundheit, nennt, „eine Fundgrube für Wissenschaftler, Forscher, Innovatoren und politische Entscheidungsträger, die an der nächsten lebensrettenden Behandlung arbeiten.“
Auf einer kürzlich abgehaltenen Konferenz erklärte Maria Buckland Hassel von der schwedischen eHealth-Agentur, dass der EHDS zwar eher als „eine ferne Realität“ bezeichnet werden könne, „aber er gibt uns allen ein Ziel, auf das wir hinarbeiten können“. Die Veranstaltung, an der ich mit Begeisterung teilnahm, trug den Titel „European Health Data Space – Opportunity for Innovation and Economic Growth – Vision or Reality?“ und wurde von der tschechischen Handelskammer in Zusammenarbeit mit dem Verband der innovativen pharmazeutischen Industrie der Tschechischen Republik (AIFP) organisiert. Die Veranstaltung fand in Prag unter der Schirmherrschaft der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft statt, und wir von MSD haben sie gerne unterstützt.
Das Positive daran…
Der EHDS-Vorschlag könnte ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg sein, den Bürger:innen jederzeit freien und direkten Zugang zu ihren elektronischen persönlichen Gesundheitsdaten zu ermöglichen. Dies ist seit langem eine Forderung von Patient:innen und Patient:innenverbänden, die im EHDS die Möglichkeit sehen, diese Daten sowohl in ihrem Heimatland als auch in anderen EU-Mitgliedstaaten gemeinsam zu nutzen. Durch den grenzüberschreitenden Charakter des EHDS werden Krankenakten im Ausland leichter zugänglich sein, während der Einzelne selbst bestimmen kann, wer sie einsehen kann.
„Der EHDS könnte enorme Auswirkungen auf die Art und Weise haben, wie die nationalen Gesundheitsdienste organisiert sind.“
Zu gegebener Zeit wird die strikte Anpassung an gemeinsame Standards für die Datenverarbeitung und den Datenaustausch – unter Verwendung ständig aktualisierter und zuverlässiger Informationen – die Forschung, die Innovation, die politischen Bemühungen und nicht zuletzt die Patient:innensicherheit fördern. Darüber hinaus könnten dadurch in einer Zeit ständig wachsender Anforderungen an die öffentlichen Haushalte erhebliche finanzielle Mittel eingespart werden.
Die Europäische Kommission schätzt, dass die Krankenhäuser mit Hilfe des EHDS 15 % ihrer Kosten einsparen könnten. Beispielsweise wäre es möglich, durch die gemeinsame Nutzung von Daten durch Krankenhäuser und Allgemeinmediziner:innen die Ausgaben für diagnostische Bildgebung EU-weit um bis zu 10 % oder 1,4 Mrd. EUR zu senken.
„Insgesamt könnte die EU durch das System über einen Zeitraum von zehn Jahren schätzungsweise 11 Mrd. EUR einsparen.„
Ein entscheidender Vorteil des EHDS besteht darin, dass die vorgeschlagene Erfassung und gemeinsame Nutzung von (anonymisierten oder pseudonymisierten) Gesundheitsdaten auf einer quasi kontinentalen Basis die Formulierung und Durchführung wichtiger Projekte unterstützen wird. Indem vergleichbare Informationen zur Verfügung gestellt werden, könne etwa der europäische Plan zur Krebsbekämpfung und der Fahrplan zur Bekämpfung nicht übertragbarer Krankheiten gefördert werden. Man kann sich sogar vorstellen, dass eines Tages Patient:innen in ganz Europa Zugang zu einer Behandlung auf höchstem Niveau haben werden. Auch Diagnose und Behandlung werden besser und schneller sein.
Der Mehrwert wird allen zugutekommen – den Patient:innen, den Gesundheitsdienstleistern, den nationalen Gesundheitsdiensten, den politischen Entscheidungsträgern, der Industrie und der Gesellschaft… ein positiver Kreislauf! Und in der Praxis?
…und die Kehrseite
Natürlich sollten wir – wie bei allen weitreichenden Projekten – vorsichtig, aber hoffnungsvoll bleiben, was den Erfolg angeht, das war eine der wichtigsten Lehren aus der oben erwähnten Konferenz.
„Die Komplexität der vor uns liegenden Aufgabe ist erschreckend. Man denke nur an die versprochenen Vorteile in Form von verbesserter Wettbewerbsfähigkeit und Innovation.“
Europa ist in diesem Bereich in den letzten zwei Jahrzehnten weit hinter die USA zurückgefallen. Nur vier der 100 weltweit führenden KI-Start-ups stammen aus Europa, und nur 5 % der weltweiten „Einhörner“ (Start-ups im Wert von 1 Milliarde Dollar) sind bei uns zu Hause. Amerika zieht jetzt viel mehr pharmazeutische Investitionen an und beherbergt viel mehr neue Unternehmen. Nach den Worten von Lisbeth Nielsen, der Leiterin der dänischen Behörde für digitale Gesundheit, überschätzt Europa, wie schnell dies alles erreicht werden kann (und unterschätzt gleichzeitig die langfristige Bedeutung).
Darüber hinaus würde ich argumentieren, dass die fehlende Standardisierung und „Parametrisierung“ von primären Gesundheitsdaten eine große Gefahr darstellt. Unvollständige, nicht repräsentative Daten oder Datensätze, die ohne klare Definition von Parametern aufbewahrt werden, können nicht für den automatischen Austausch verwendet werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Digitalisierung des Gesundheitswesens (und anderer Variablen) in den EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich weit fortgeschritten ist und einige von ihnen einen erheblichen Rückstand aufweisen.
In der Industrie wird der EHDS sogar als „trojanisches Pferd für die Pharma- und Medizintechnik“ bezeichnet, da Organisationen, einschließlich Unternehmen, möglicherweise gezwungen sind, wertvolle Datensätze an Konkurrenten weiterzugeben, oder die Rechte am geistigen Eigentum (Intellectual Property Rights, IPR) und Geschäftsgeheimnisse bedroht sind.
„Jede Bedrohung der Rechte des geistigen Eigentums könnte genau die Investitionen in Forschung und Innovation untergraben, die die EU mit diesen Rechtsvorschriften fördern möchte.“
Alles ist eine Frage des Gleichgewichts, und das ist mit den bisherigen Rechtsvorschriften noch nicht erreicht worden.
Vision und Realität
Wenn die Vision der EU mehr als nur ein Traum sein soll, müssen Taten folgen, und zwar in Form einer Vereinbarung zwischen den 27 EU-Mitgliedstaaten und den Mitgesetzgebern, dem Europäischen Parlament. Der jetzt eingeleitete Gesetzgebungsprozess wird kein langer, ruhiger Fluss sein: Trotz des Wunsches der Institutionen, das Dossier bis zu den Europawahlen im Mai 2024 abzuschließen, haben wir es hier mit einem langen Weg zu tun.
Die pharmazeutische Industrie ist bereit, willens und in der Lage, ihren Teil dazu beizutragen, dass diese ehrgeizige Vision Wirklichkeit wird und ihren Zweck erfüllt. Als Geschäftsführer von MSD in der Tschechischen Republik, dem Mitgliedstaat, der bis Ende 2022 die EU-Ratspräsidentschaft innehat, bin ich zuversichtlich, dass dies möglich ist. Da der Staffelstab bald an Schweden weitergegeben wird, hoffe ich, dass die Fortschritte, die ich bei der Zusammenarbeit der verschiedenen Interessengruppen gesehen habe, auch nach 2022 fortgesetzt werden.
Dieser Gastbeitrag von Stefano Santangelo, Managing Director MSD in Tschechien, wurde erstmals im Blog der EFPIA (European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations) veröffentlicht. Übersetzt aus dem Englischen.