FOPI.flash Februar 2025
In dieser Ausgabe
- Editorial: Gesundheit kennt keine Grenzen
- Analyse: Sind wir reif für den Europäischen Gesundheitsdatenraum?
- FOPI Interna: Leif Moll ist neuer Präsident des FOPI
- Begriff des Monats: Health for All
- Wort des Monats: Metastasierter Brustkrebs
- Podcast: Adipositas und Herz-Kreislauferkrankungen
- Interview: Jens Weidner – Patient:innennutzen sollte im Mittelpunkt stehen
- Wordrap: Ingo Raimon blickt zurück und voraus

Editorial
Gesundheit kennt keine Grenzen
Individuelle Gesundheit ist untrennbar mit der Rolle von Gesundheit in der Gesellschaft verbunden. Denn was wie eine individuelle Entscheidung über Lebensstil, Ernährung oder Bewegung aussieht, hat weitreichende gesellschaftliche Folgen. Wer sich nicht bewegt, ungesund ernährt oder auf Prävention verzichtet, trägt nicht nur gesundheitliche Risiken für sich selbst, sondern belastet auch das gesamte Gesundheitssystem.
Umgekehrt haben die gesellschaftlichen Strukturen unzweifelhaft große Auswirkungen auf die persönliche Gesundheit. Je mehr geforscht wird und je besser ein Gesundheitssystem funktioniert, umso einfacher kann jede:r einzelne präventive oder kurative Leistungen in Anspruch nehmen.
Deshalb sind nationale, aber auch überregionale Anstrengungen sowie eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit zur Krankheitsbekämpfung von größter Bedeutung. Das stand lange Zeit außer Streit.
Erst seit kurzem werden von Staatsoberhäuptern wie dem US-Präsidenten Donald Trump Institutionen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Frage gestellt. Mit seiner Ankündigung hat er jedoch eine Dynamik in Gang gesetzt. Der italienische Vize-Regierungschef Matteo Salvini hat inzwischen einen ähnlichen Gesetzesantrag in den Senat gebracht, und auch Argentinien denkt über einen WHO-Ausstieg nach.
Das ist brandgefährlich. Denn Krankheiten machen – wie wir alle wissen – nicht an Staatsgrenzen Halt und lassen sich auch nicht mit nationalstaatlich engen Maßnahmen in Schach halten. Forschung und Fortschritt in der Medizin leben von Austausch und Wissenstransfer. Mit gutem Grund hat daher die Europäische Union die Voraussetzungen für einen Europäischen Gesundheitsdatenraum geschaffen (lesen Sie dazu gleich den ersten Beitrag). Und mit dem gleichen Antrieb kooperieren wir in der Forschung weltweit.
Diese Errungenschaften dürfen wir – im Interesse der Patient:innen – nicht durch politisch motivierte Aussagen aufs Spiel setzen. Tausende Mitarbeiter:innen in unseren forschenden pharmazeutischen Unternehmen wie auch die Ärzt:innen und Pflegepersonen in den Gesundheitssystemen geben täglich alles, um Patient:innen mit schweren Erkrankungen und dringendem Bedarf zu helfen. Dies hat einen hohen Wert – für das Individuum und ebenso für die Gesellschaft. Dazu mehr in Kürze.
Leif Moll und George Tousimis
Präsidium des Forums der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich (FOPI)

Analyse
Sind wir reif für den Europäischen Gesundheitsdatenraum?
Vor wenigen Wochen wurde vom Rat der Europäischen Union die Verordnung zur Schaffung des Europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS) angenommen. Damit kann das Zukunftsprojekt Schritt für Schritt Wirklichkeit werden und der Nutzung von Gesundheitsdaten für Forschung und Versorgung den Weg ebnen. Welche Potenziale dies birgt, aber auch welche Hürden noch zu nehmen sind, das stellt FOPI.flash in einem Überblick dar. Außerdem haben vier ausgewiesene Expert:innen ihre Sicht dazu eingebracht.
Das Gesundheitswesen ist nicht nur ein zentraler Pfeiler der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge, sondern mittlerweile auch einer der größten Datenproduzenten. Schätzungen gehen davon aus, dass aktuell ca. 30 % des weltweit anfallenden Datenvolumens aus dem Bereich der Gesundheitsversorgung und Lebenswissenschaften stammen. Aufgrund des Wachstums der Sektoren und der zunehmenden Digitalisierung wächst die Datenmenge darüber hinaus schneller als in anderen Bereichen. Gleichzeitig kommt es immer noch vor, dass Patient:innen ausgedruckte Befunde von A nach B tragen, oder dass überhaupt kein Zugriff auf bestimmte Gesundheitsdaten besteht. Auch Ärzt:innen sowie andere Gesundheitsberufe haben derzeit limitierten Zugriff auf versorgungsrelevante Daten. Und nicht zuletzt bemängeln Forscher:innen die eingeschränkten Möglichkeiten, mit Gesundheitsdaten zu forschen.
Um die Nutzbarkeit und Nutzung von Gesundheitsdaten in Gesundheitsversorgung, Forschung und Gesundheitspolitik zu verbessern, soll nun ein Europäischer Gesundheitsdatenraum (European Health Data Space, EHDS) Wirklichkeit werden. Die entsprechende EU-Verordnung wurde im April 2024 beschlossen und mit 21. Januar 2025 vom Rat der Europäischen Union angenommen. Damit tritt die Verordnung zeitnah in Kraft.
EHDS ante portas
Die Anwendung der Vorschriften des EHDS passiert in weiterer Folge schrittweise: Einige Bestimmungen gelten ab zwei Jahren nach Inkrafttreten, andere nach vier, sechs oder zehn Jahren. Diese gestaffelte Umsetzung soll den Mitgliedstaaten und beteiligten Akteuren ausreichend Zeit geben, die notwendigen Anpassungen vorzunehmen.
Klar ist aber jetzt schon: Der Europäische Gesundheitsdatenraum wird erhebliche Auswirkungen auf Österreich haben, sowohl im Hinblick auf die primäre als auch die sekundäre Nutzung von Gesundheitsdaten.
Primäre Nutzung von Gesundheitsdaten
Österreich verfügt mit ELGA bereits über ein seit über einem Jahrzehnt etabliertes elektronisches Gesundheitsaktensystem, das nahezu die gesamte Bevölkerung abdeckt. Dies bietet eine solide Grundlage für den grenzüberschreitenden Datenaustausch im Rahmen des EHDS. Patient:innen und Gesundheitsdienstleister werden von einem verbesserten Zugang zu Gesundheitsdaten profitieren, insbesondere bei Behandlungen im europäischen Ausland.
Sekundäre Nutzung von Gesundheitsdaten
Trotz der umfangreichen elektronischen Gesundheitsdaten in Österreich fehlen derzeit jedoch noch die notwendigen Infrastrukturen und Prozesse für die Nutzung dieser Daten zu Forschungs- und Politikgestaltungszwecken. Die Implementierung des EHDS erfordert daher erhebliche Investitionen in die Interoperabilität (also in das Zusammenspiel unterschiedlicher Systeme) und die Standardisierung der Daten sowie in den Aufbau von Kapazitäten und Kompetenzen für die Datenverarbeitung.
Chancen und Risken des Zukunftsprojekts
Zusammenfassend betrachtet bietet der EHDS für Österreich die Chance, die Gesundheitsversorgung zu verbessern und die Forschung zu fördern. Gleichzeitig erfordert seine Umsetzung jedoch erhebliche Anpassungen und Investitionen, um die bestehenden Herausforderungen zu bewältigen. Zudem wird es wichtig sein, das Bewusstsein und das Vertrauen der Bürger:innen, Patient:innen und Gesundheitsfachkräfte in den EHDS zu stärken.
Doch welche Hürden, Chancen und Risiken sehen heimische Fachleute? FOPI.flash hat vier prononcierte Expert:innen gefragt.

Die Zusammenführung der Gesundheitsdaten im Europäischen Gesundheitsdatenraum wird die Versorgung und Infrastruktur der Gesundheitssysteme national und EU-weit enorm verbessern. Gleichzeitig wird der EHDS die Entwicklung innovativer Arzneimittel revolutionieren. Insbesondere die Nutzung für Forschung und Entwicklung verspricht enormes Potenzial zum Nutzen der Bevölkerung. Hier gilt es Bewusstsein zu schaffen und den Patientennutzen in den Vordergrund zu stellen. Aber auch für den Pharmastandort Europa ist der EHDS ein Quantensprung. Die gesetzlichen und technischen Voraussetzungen für ein Funktionieren des EHDS sind bereits weit fortgeschritten. Nun sind die Daten standardisiert aufzubereiten und freizugeben, und die Interoperabilität der vielen verwendeten Systeme herzustellen. Diese nationale Aufgabe ist qualitätsgesichert und zügig durchzuführen.
Florian Frauscher, Leiter der Sektion Wirtschaftsstandort, Innovation und Internationalisierung des Bundesministeriums für Arbeit und Wirtschaft

Durch den EHDS erhalten Patientinnen und Patienten national sowie EU-weit Zugang zu ihren e-Rezepten, Patient Summaries, Entlassungsberichten, Bild- und Labordaten, was die medizinische Versorgung verbessert. Die Umsetzung ist jedoch herausfordernd: Gesetzliche Vorgaben müssen mit bestehenden Systemen harmonisiert, EHR-Systeme interoperabel gemacht und ein sicherer, grenzüberschreitender Datenaustausch gewährleistet werden. Bereits nach vier Jahren sollen sämtliche EHR-Systeme interoperabel funktionieren – ein straffer Zeitplan, der enge Koordination und Investitionen erfordert. In Österreich sind wir mit ELGA gut aufgestellt, da bereits eine etablierte Infrastruktur für den digitalen Gesundheitsdatenaustausch existiert. Dies erleichtert die Anpassung an den EHDS, dennoch sind technologische Weiterentwicklungen notwendig. Der EHDS bietet enormes Potenzial und schafft eine völlig neue Datenbasis für Forschung und Behandlungsprozesse, doch sein Erfolg hängt von der reibungslosen Umsetzung und Integration in bestehende Prozesse ab.
Helene Prenner, Leitung Kompetenzzentrum für internationale Projekte, ELGA GmbH

Die Europäische Datenstrategie stellt zweifellos einen bedeutenden Schritt zur Stärkung der europäischen Souveränität und zur Demokratisierung von Gesundheitsdaten dar. Damit diese ehrgeizigen Ziele erreicht werden, muss jedoch in den kommenden Jahren bei der nationalen Umsetzung ein besonderes Augenmerk auf die tatsächliche Nutzbarkeit der Daten gelegt werden. Denn ein hoher Datenbestand allein ist wenig wert, wenn die Daten qualitativ unzureichend sind oder der Zugriff nur über äußerst komplexe Prozesse möglich ist. Besonders MedTech- und Pharmaunternehmen haben bereits hochentwickelte Analysepipelines etabliert, die beispielsweise im Bereich des Post-Market Clinical Follow-ups genutzt werden. Die Umstellung dieser bewährten Prozesse auf die im EHDS Act beschriebenen Secure Processing Environments würde tiefgreifende Veränderungen mit sich bringen und erhebliche Kosten verursachen. Es ist daher entscheidend, diese Herausforderung mit Bedacht anzugehen, um zu vermeiden, dass die Mammutaufgabe EHDS nicht zur endlosen Sisyphusarbeit wird.
Klaus Donsa, Senior Scientist, Digital Health Information Systems am AIT Austrian Institute of Technology

Der Europäische Gesundheitsdatenraum bietet eine einmalige Chance unsere Dateninfrastrukturen für legitime Sekundärnutzungszwecke weiterzuentwickeln: Forschung, Innovation und Systemsteuerung profitieren von der Möglichkeit zur sicheren Weiterverwendung von pseudonymisierten Daten – und damit letztlich unser Gesundheitssystem. Zu den Herausforderungen zählen die nötigen Investitionen in Interoperabilität und Infrastruktur: Es braucht Transparenz für Bürger:innen, eine gute Dokumentation der Datenbestände für die Nutzer:innen sowie vertrauenswürdige Prozesse für Datenhalter:innen. Eine weitere Herausforderung ist der Umfang der Verordnung: Sie betrifft Datenbestände, deren Datenhalter:innen sich nicht als Akteur:innen im Gesundheitssystem verstehen oder die den Kulturwandel hin zur grundsätzlichen Offenheit nicht nachvollziehen. Zuletzt ist auch eine Balance zu finden zwischen Gebühren und nötiger Basisfinanzierung: Wo ist uns niederschwelliger Zugang besonders wichtig und wie kann der gesellschaftliche Wert der Sekundärnutzung dokumentiert werden? Der EHDS kann Wert schaffen, wenn wir ihn richtig umsetzen.
Alexander Degelsegger-Márquez, Leiter der Abteilung Digitalisierung und Dateninfrastrukturen, Gesundheit Österreich GmbH (GÖG)

FOPI Interna
Leif Moll ist neuer Präsident des FOPI
Das Forum der forschenden pharmazeutischen Industrie hat einen neuen Präsidenten: Leif Moll, seit November 2023 Vizepräsident des FOPI und Managing Director von Merck in Österreich, wurde am 27. Februar 2025 als Nachfolger von Julia Guizani gewählt, deren Funktionsperiode turnusmäßig ausgelaufen war und die sich aufgrund ihres beruflichen Wechsels in die USA auch nicht mehr beworben hatte. Leif Moll beabsichtigt, den eingeschlagenen Kurs fortzusetzen und gleichzeitig neue Akzente zu setzen: „Gemeinsam mit vielen engagierten Persönlichkeiten haben wir das FOPI als unverkennbare Stimme der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich etabliert und bedeutende Dialoge zu wichtigen Themen angestoßen. Darauf möchte ich aufbauen und die vielen Veränderungsprozesse im Gesundheitsbereich hierzulande aktiv mitgestalten, um den Zugang zu medizinischer Innovation, besonders für solche Patient:innen mit hohem und unzureichend gedecktem medizinischen Bedarf, sicherzustellen. Bei Julia Guizani möchte ich mich ausdrücklich für die hervorragende und vertrauensvolle Zusammenarbeit bedanken.“
Ein ausführliches Interview mit Leif Moll lesen Sie in der nächsten Ausgabe des FOPI.flash.

Begriff des Monats
Health for All
Welchen Nutzen haben pharmazeutische Innovationen für die Gesellschaft? Und ist Gesundheit eine Investition in die Volkswirtschaft? Diese brisanten Fragen wurden beim sechsten FOPI Think & Do Tank mit maßgeblichen Stakeholdern des Gesundheitswesens – auf der Basis einer aktuellen Studie des IPF Institut für Pharmaökonomische Forschung – diskutiert. Bei durchaus unterschiedlichen Perspektiven und dementsprechend verschiedenen Haltungen zur Kosten-Nutzwert-Dimension waren sich alle in einem Punkt einig: Das Gesundheitssystem hat einen hohen Wert für andere Politikbereiche, und das sollte viel stärker in politischen Verhandlungen berücksichtigt sowie in der Gesellschaft verankert werden. Denn damit kann umfassender Nutzen für die anderen Bereiche generiert werden – „Health for All“.
Danke an Alexander Biach, Christian Böhler, Stefan Eichwalder, Eva Hilger, Astrid Jankowitsch, Josef Kandlhofer, Gregor Mandlz, Leif Moll, Anna Nachtnebel, Herwig Ostermann, Nathanael Paterna, Stephanie Prinzinger, Benjamin Riedl, Ella Rosenberger, Robert Sauermann, Evelyn Walter, Jens Weidner und Elisabeth Weigand.

Wort des Monats
Leben mit und trotz metastasiertem Brustkrebs
Claudia hat Brustkrebs mit Metastasen in Leber, Knochen und Bauchfell. Sie bezeichnet sich selbst als eine Art „Meta-Dino“, denn bei der Diagnose hieß es, sie hätte eine durchschnittliche Lebenserwartung von 2 Jahren – das war vor 11 Jahren. Seitdem lebt sie, mal besser, mal schlechter, dank immer wieder neuer Therapien, die sie am Leben halten. Zwar gibt es Schmerzen und Nebenwirkungen, „aber im Moment komme ich damit gut zurecht“. Vor allem, so sagt sie selbst, wäre sie ohne Therapien nicht mehr da.
Hier geht’s zum Video: https://youtu.be/6gRL6t-BhGw

Podcast
Am Mikro|skop: Adipositas und Herz-Kreislauferkrankungen – eine starke Verbindung
In Österreich leben 18 % aller Männer und 15 % aller Frauen mit Adipositas. Oft als starkes Übergewicht und „Life-Style-Problem“ abgetan, verbirgt sich dahinter eine komplexe Erkrankung mit schwerwiegenden Folgeerkrankungen. Besondere Relevanz für Österreichs Patientinnen und Patienten, und auch für das Gesundheitssystem, haben dabei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, eine der Haupttodesursachen in Österreich. Neue Studien zeigen Möglichkeiten auf, dieses direkte Zusammenspiel von Adipositas und Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich zu verringern. Dazu spricht in der 36. Folge von „Am Mikro|skop“ mit Moderatorin Martina Rupp mit Univ.-Prof. Priv.-Doz. Dr.med.univ. Harald Sourij, MBA, Stellvertretender Leiter der klinischen Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie, Medizinische Universität Graz, President elect der Österreichischen Diabetes Gesellschaft, und Assoz. Prof. Priv.-Doz. Dr.med. Dirk von Lewinski, Klinische Abteilung für Kardiologie, Medizinische Universität Graz.
Diese und alle anderen Episoden des Podcasts finden Sie hier: https://fopi.at/fopi-podcast/episode-36/
Weitere Informationen zu Adipositas und wo Sie professionelle Hilfe bei der Behandlung erhalten, unter: www.adipositas.at, www.abnehmen.at
Am Mikro|skop ist eine Initiative des Fachverbands der Chemischen Industrie Österreichs (FCIO) und des Forums der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich (FOPI). Medienpartner ist MedMEDIA | RELATUS, führender Fachverlag im Gesundheitswesen mit medizinischen und pharmazeutischen Informationen auf dem neuesten Stand der Wissenschaft.

Interview
Jens Weidner: Patient:innennutzen sollte im Mittelpunkt stehen
Wir können von unseren westlichen Nachbarländern einiges lernen, wie man den Patient:innennutzen stärker in den Mittelpunkt des Erstattungsprozesses und der Bewertung von neuartigen Therapien stellt, sagt Jens Weidner, General Manager bei Bristol Myers Squibb Österreich, im Interview mit FOPI.flash. Derzeit sei dies nur unzureichend berücksichtigt.
Sie sind seit Mitte letzten Jahres General Manager bei Bristol Myers Squibb Österreich, waren aber auch schon davor sehr beim FOPI engagiert. Warum? Was macht für Sie das FOPI aus?
Die forschende pharmazeutische Industrie leistet beeindruckende Beiträge für die Menschen in Österreich und unsere Gesellschaft insgesamt. In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben wir bahnbrechende Therapieerfolge zum Wohle unzähliger Patientinnen und Patienten erzielt. Denken Sie nur an die großen Fortschritte in der Krebsbehandlung oder an die Durchbrüche in der HIV- und Hepatitis-C-Behandlung. Auch die Behandlung von Volkskrankheiten im Herz-Kreislauf- und Diabetes-Bereich hat sich grundlegend verbessert.
Darüber hinaus trägt unsere Industrie erheblich zum Innovations- und Wissenschaftsstandort Österreich bei. Besonders in Zeiten eines rückläufigen Bruttoinlandsprodukts sind wir ein stabiler Anker, der weiterhin interessante Arbeitsplätze schafft und hohe Investitionen in Forschung und Entwicklung in unserem Land ermöglicht.
Deshalb braucht unsere Industrie eine starke Stimme, um sicherzustellen, dass Patientinnen und Patienten in Österreich auch in Zukunft frühzeitig Zugang zu innovativen Therapien erhalten und ein Umfeld geschaffen wird, das Investitionen in Forschung und Entwicklung fördert. Aus diesem Grund engagiere ich mich seit fast einem Jahrzehnt gerne aktiv beim FOPI.
In Ihrer Karriere haben Sie unterschiedliche europäische Gesundheitssysteme kennengelernt. Was sind aus Ihrer Sicht die Besonderheiten in Österreich – im Guten, wie im verbesserungsfähigen Sinne?
Unser österreichisches Gesundheitssystem gehört sicherlich zu den besten in Europa, insbesondere was die Behandlungsqualität bei schwerwiegenden Erkrankungen betrifft. Patientinnen und Patienten haben in der Regel guten Zugang zu innovativen Therapien und werden von europaweit anerkannten Spitzenmediziner:innen behandelt. Es ist wichtig, diesen hohen Standard zu bewahren, besonders angesichts neueingeführter zusätzlicher Mechanismen wie dem Bewertungsboard für Spitalsmedikamente.
Um die Nachhaltigkeit unseres Gesundheitssystems sicherzustellen, müssen wir jedoch verstärkt auf Vorsorge, frühzeitige Diagnosen und bestmögliche Behandlungen setzen, damit die gesunden Lebensjahre unserer Bevölkerung zunehmen. Dies kommt nicht nur den Menschen in Österreich zugute, sondern ermöglicht ihnen auch, weiterhin gesellschaftliche und ökonomische Beiträge zu leisten.
Ein weiterer Bereich, der verbessert werden muss, ist die Patientensteuerung. Jede und jeder sollte am Best Point of Care behandelt werden. Obwohl dies allgemein bekannt ist, müssen wir die guten Ideen, die diskutiert werden, auch tatsächlich umsetzen.
Zudem können wir durch die Digitalisierung erhebliche Effizienzgewinne erzielen – zum Wohle jedes Einzelnen. Wir können dadurch Mehrfachuntersuchungen vermeiden, Ärzt:innen können im Notfall schneller reagieren und nicht zuletzt müssen Patient:innen nicht mehr mit einem Ordner voller ausgedruckter Befunde von einem Arzt zum anderen wandern.
Wir leben gerade in einer Zeit von vielen Veränderungen, auch für die heimischen Patient:innen. Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen, aber auch die größten Chancen für ein Gesundheitssystem der Zukunft?
Der technologische Fortschritt und die Entwicklung zunehmend personalisierter Medizin eröffnen neue Möglichkeiten für die Patient:innenversorgung, vorausgesetzt, ein rascher Zugang zu diesen innovativen Therapien wird sichergestellt. Der kürzlich veröffentlichte Krebsreport der OeGHO hat bestätigt, dass Patientinnen und Patienten durch neue hochwirksame Therapien immer höhere Chancen auf Langzeitüberleben bei oftmals verbesserter Lebensqualität haben. Auch in anderen Therapiebereichen gab es bahnbrechende Fortschritte.
Gleichzeitig stellt uns der demografische Wandel vor Herausforderungen: Mit einer alternden Bevölkerung nimmt die Bedeutung von schweren Erkrankungen zu. Unsere Branche setzt daher den Fokus auf den Zugang zu medizinischen Fortschritten und unterstützt die Optimierung der Behandlungspfade – von der Prävention über die frühe Diagnose und Behandlung bis zur Nachsorge. Zudem sollten wir die Digitalisierung viel stärker nutzen, um mehr gesunde Lebensjahre für die Bevölkerung zu schaffen und die Nachhaltigkeit des Gesundheitssystems sicherzustellen.
Apropos Zukunft: Rund 40 % der in Österreich neu zugelassenen Medikamente sind nicht in der Regelerstattung. Was müsste getan werden, damit die Versorgung mit innovativen Arzneimitteln für alle sichergestellt ist?
Dieser überraschend hohe Anteil zeigt, dass der Erstattungskodex in seiner jetzigen Konzeption Innovation und Patientennutzen nur unzureichend berücksichtigt. Bei Indikationserweiterungen ist dieser Anteil der Neuzulassungen noch höher, der nicht in die Regelerstattung kommt. Eine kürzlich von Bristol Myers Squibb unterstützte Studie des Economica Instituts hat hier klar aufgezeigt, dass die Nichtaufnahme einer innovativen Therapie in den EKO eine signifikante Zugangshürde zu dieser Behandlung für Patientinnen und Patienten in Österreich darstellt, besonders in Therapiebereichen außerhalb der Onkologie.
Wir können hier sicher von unseren westlichen Nachbarländern einiges lernen, wie man den Patient:innennutzen stärker in den Mittelpunkt des Erstattungsprozesses und der Bewertung von neuartigen Therapien stellt. Als FOPI stehen wir gerne zur Verfügung, um gemeinsam mit allen Stakeholdern Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten.
Über BMS
Bristol Myers Squibb (BMS) gehört zu den weltweit führenden Unternehmen der biopharmazeutischen Branche und setzt Maßstäbe in der Entdeckung, Entwicklung und Bereitstellung innovativer Medikamente. Mit dem klaren Ziel, die Lebensqualität von Patientinnen und Patienten mit schweren Erkrankungen nachhaltig zu verbessern, fokussiert sich das Unternehmen auf die Entwicklung bahnbrechender Therapien in Bereichen wie Onkologie, Immunologie, Kardiologie und Virologie. Durch kontinuierliche Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie durch enge wissenschaftliche Zusammenarbeit strebt BMS danach, neue Therapieansätze zu entwickeln, die die Behandlung von Krankheiten revolutionieren können. In Österreich laufen derzeit mehr als 50 klinische Studien, und weltweit umfasst das Unternehmen über 60 neue Therapieansätze in den Bereichen Onkologie, Immunologie, Hämatologie, fibrotische Erkrankungen, Herz-Kreislauf und Neurowissenschaften.

Wordrap
Ingo Raimon blickt zurück und voraus
Einer der Gründungsväter vom FOPI, scheidender PHARMIG-Präsident und langjährig engagierter Vertreter der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich – Ingo Raimon blickt in einem kurzen Wordrap auf seine aktive Zeit im österreichischen Gesundheitsbereich zurück und wagt auch eine Prognose für die Zukunft.
Bei FOPI denke ich an …
die Momente der Gründung – ich war einer der Gründerväter – und mit welchem leidenschaftlichen Engagement sich seither Menschen zusätzlich zu ihrem Brotberuf unentgeltlich für gute Rahmenbedingungen einsetzen sowie unermüdlich den Dialog mit Stakeholdern führen.
Die forschende pharmazeutische Industrie bedeutet für mich …
Fortschritt in der Medizin. Denn nur durch Forschung entstehen pharmazeutische Neuerungen, die Ärzt:innen und Menschen mit Erkrankungen helfen, mehr Lebensqualität durch eine optimale Therapie zu erhalten. Die Industrie bringt sehr gute Produkte hervor und sie hat eine hohe Wirtschaftsleistung.
Diese Ereignisse im österreichischen Gesundheitssystem haben mich während meiner Karriere am meisten überrascht …
Dass der Zugang zu Arzneimitteln ein immer wichtigeres Thema wird und wir nicht müde werden dürfen zu betonen, dass EIN Arzneimittel für eine Indikation nicht genug ist.
Dass der Wert unserer Branche noch immer unterschätzt wird. Wir sind ein wichtiger Arbeitgeber und bieten hoch qualitative Arbeitsplätze.
Diese drei Entwicklungen erwarte ich in den nächsten Jahren im österreichischen Gesundheitssystem …
Erstens, der Zugang zu Arzneimitteln wird ein Thema bleiben. Die Bereiche der Erstattung und Preisgestaltung werden die gesamte Industrie weiterhin fordern.
Zweitens, für viele Unternehmen wird es schwieriger werden, ihre Standorte zu halten. Österreich hat hier viel zu verlieren!
Drittens, Österreich hat derzeit eine gute Gesundheitsversorgung in vielen Bereichen. Diese muss gehalten werden. Dafür müssen wir jetzt die richtigen Weichen stellen.
Die größten Learnings meiner Karriere …
Man darf nicht müde werden, das Hochrisikogeschäft der Pharmaindustrie zu erklären. Nur gemeinsam kann man Themen bewegen. Die hohe Solidarität innerhalb der Branche hat ermöglicht, den guten und manchmal durchaus herausfordernden Dialog mit Stakeholdern zu führen.
Wenn ich drei Wünsche für das österreichische Gesundheitssystem frei hätte, dann wären das …
Erstens, klinische Forschung sollte in Österreich ein bestmögliches Umfeld finden. Wir brauchen die Innovation!
Zweitens, eine weiterhin gute Gesundheitsversorgung, die tatsächlich Patient:innen in den Mittelpunkt stellt.
Drittens, Zugang zu innovativen Arzneimitteln, damit man bei Erkrankung mit dem Standard-of-Care behandelt wird – heute und auch morgen.
Mag. Ingo Raimon, Jurist, begann seine Karriere 1989 bei Abbott und war dort über 20 Jahre in unterschiedlichen Funktionen und Ländern tätig. Ab 1999 war er General Manager in Österreich. Mit Jänner 2013 übernahm Ingo Raimon die Geschäftsführung des biopharmazeutischen Unternehmens AbbVie, das nach der Trennung von Abbott die forschungsbasierten pharmazeutischen Leistungen bündelt. Er setzte sich über Jahrzehnte hinweg für die Interessen der Pharmaindustrie ein und war einer der Gründer des FOPI – Forums der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich. Er wurde im Mai 2023 zum Präsidenten der PHARMIG gewählt, deren Vorstandsmitglied er bereits seit 2013 war. In der Zeit von Jänner 2013 bis Dezember 2016 und von November 2017 bis November 2020 war Ingo Raimon Präsident des FOPI.