Waisenkinder der Medizin? Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen
© Katharina Schiffl
Seltene Erkrankungen heißen nicht deshalb so, weil es so wenige von ihnen gäbe, ganz im Gegenteil: Alleine in Österreich rechnen wir, dass es rund 6.000 solche Erkrankungen gibt. Der Name kommt daher, dass von jeder dieser Erkrankungen weniger als einer von 2.000 Menschen betroffen ist. Insgesamt leben rund 450.000 Menschen in unserem Land mit einer seltenen Erkrankung.
Wer kennt Myasthenia Gravis?
Ihre Schwierigkeiten sind vielfach, beginnen aber praktisch immer spätestens, wenn sie sich mit ihren Symptomen zu einer:m Mediziner:in begeben. Je nach Fachrichtung stellt diese:r eine seriöse, sehr oft aber nicht oder nicht völlig zutreffende Diagnose, einfach weil die in Wahrheit zugrundeliegende seltene Erkrankung eben selten ist und die Symptome oft aus der fachdisziplinären Perspektive des:der jeweiligen Mediziner:in interpretiert werden. Dies führt dann zu Therapieansätzen, die zwangsläufig an den Erfordernissen der eigentlichen Erkrankung vorbeigehen müssen. Damit ist ausdrücklich keine Kritik an der Qualifikation von Mediziner:innen gemeint; es geht vielmehr darum, dass Wissen und Verständnis von seltenen Erkrankungen nicht nur in der Laien-Öffentlichkeit, sondern auch in der Medical Community noch stark ausbaufähig sind.
„In Österreich sind je nach Schätzung zwischen 1.200 und 3.000 Menschen von Myasthenia Gravis betroffen; die Neudiagnosen nehmen jedes Jahr um rund 5% zu.“
Ein prägnantes Beispiel für solche wenig bekannten, seltenen Erkrankungen ist Myasthenia Gravis, eine chronische neurologische Autoimmunerkrankung, bei der vereinfacht gesagt die Kommunikation zwischen Nerven und Muskeln blockiert wird, sodass phasenweise eine folgenschwere Muskelschwäche auftritt. Die Auswirkungen sind vielfältig und umfassen etwa Sehstörungen und Beeinträchtigungen des Gesichtsausdrucks, Sprech- und Schluckbeschwerden oder Erschwerung von alltäglichen Bewegungsabläufen wie Stiegensteigen oder Anheben der Arme. Aus diesen massiven Einschränkungen resultieren psychische Folgen, die in vielen Fällen zu massiven Lebenskrisen führen. Patient:innen unter 50 Jahren sind typischerweise weiblich, danach überwiegen männliche Betroffene. Die Ursache für diese Unterschiede sind nicht ausreichend bekannt.
Es gibt medikamentöse Therapien – warum forschen wir weiter?
Die Therapiemöglichkeiten sind noch nicht an der Bekämpfung der Ursache angelangt; derzeit existieren immerhin Medikamente zur Linderung der Symptome. Viele davon enthalten Cortison mit all seinen Stärken, aber auch den Nachteilen. Daher laufen intensive Forschungsbemühungen, um Alternativen zu entwickeln. Bereits jetzt ist aber klar, dass diese neuen Medikamente über einen längeren Zeitraum eingenommen werden müssen, und das Ergebnis dieser oft monatelangen Therapie kann sein, dass das Medikament bei manchen Betroffenen einfach nicht wirkt. Dazu kommt, dass neue Medikamente, die bereits in Entwicklung sind, zwar die problematischen Antikörper auswaschen, zugleich aber solche „mitnehmen“, die für die Immunabwehr des Körpers nötig sind. Generell versprechen aber diese neuen Medikamente speziell für mittelschwer bis schwer Betroffene deutliche Hilfe
„Was auch neue Medikamente nicht verhindern können, ist die Notwendigkeit vieler Arztkontakte. Aber Rare Disease Zentren würden sie zumindest leichter machen.“
Myasthenia Gravis erfordert viele Kontrollen ganz unterschiedlicher Werte und Körperfunktionen. Was hier helfen würde, wären spezialisierte und zertifizierte medizinische Rare Disease Zentren mit entsprechend ausgebildeten Ansprechpartner:innen. Diese Entwicklung ist in Deutschland schon weiter vorangeschritten, wo es – im Gegensatz zu Österreich – auch für Myastheniezentren schon eine anerkannte Zertifizierung gibt. Solche Zentren bieten zudem durch ihre Spezialisierung deutlich geringere Wartezeiten und können auch Angebote für Patient:innen schaffen, die abseits der urbanen Zentren leben. Ein weiterer Schritt vorwärts ist die Installierung von Patient:innen-Lots:innen, die es schon für andere seltene Erkrankungen gibt. Sie helfen in allen medizinischen und praktischen Anliegen und sind Anlaufstellen für die individuellen Herausforderungen der Betroffenen.
Awareness, Aufklärung und Hilfe
Bereits jetzt sehr aktiv ist die „Selbsthilfegruppe Myasthenia Gravis“ (www.shg-myastheniagravis.at). Mit hohem Einsatz engagiert sich das ehrenamtliche Team, um Betroffenen zu helfen und die Erkrankung bekannter zu machen. Auf der Website kann eine sehr umfassende, sorgfältig recherchierte Broschüre bestellt werden. Die Selbsthilfegruppe wünscht sich noch mehr Unterstützung seitens der in Frage kommenden medizinischen Fachgesellschaften und sucht prominente Betroffene, um gemeinsam mehr Awareness für diese Erkrankung und die Patient:innen zu schaffen.
Antonia Müller, Leiterin der Selbsthilfegruppe Myasthenia Gravis, erklärt dazu: „Wir, die Selbsthilfegruppe Myasthenia gravis, haben es uns zur Aufgabe gemacht Patienten über die Erkrankung aufzuklären, zu unterstützen, zu motivieren, Adressen von Spezialisten*innen und Ambulanzen weiterzuleiten und Tipps für so manche schwierige Situation im Alltag zu geben. Oft bleibt für viele Fragen beim Arzt nicht genügend Zeit und viele Beschwerden können nur von einem Betroffenen verstanden und nachvollzogen werden. So sehen wir die Selbsthilfegruppe als Anlaufstelle für neu Diagnostizierte aber auch für langjährig erkrankte Patienten.“
„Mitteilen, verstanden und ernst genommen werden ist ein Grundbedürfnis.“
Ihre Stellvertreterin Evelyn Suritsch ergänzt: „Obwohl es oft ein langer Weg zur Diagnosestellung sein kann, sind wir Myasthenie-Patienten mit der medizinischen Versorgung in unserem Land grundsätzlich zufrieden. Abgesehen von manchmal zu langen Wartezeiten auf einen Arzttermin oder dem „nicht ernst genommen werden“ bei der Schilderung der Symptomatik können wir auf eine gute Behandlung dieser Erkrankung vertrauen. Unser Ziel ist es, die Ärzteschaft von der Wichtigkeit der Selbsthilfegruppe zu überzeugen, um möglichst vielen Patienten diese Unterstützung anbieten zu können.“
Daniela König ist Access Lead Austria bei UCB Pharma Austria.