Bitte warten! Analyse offenbart manche Hürde und Verzögerungen beim Zugang zu innovativen Therapien
Eine weit verbreitete und oft kolportierte Meinung lautet: Patient:innen erhalten in Österreich rasch innovative Medikamente, die ihr Leben verändern könnten, also ihre Lebensqualität erhöhen und ihre Therapieergebnisse verbessern. Eine aktuelle tiefgehende Analyse im Auftrag von FOPI und PHARMIG zeichnet aber ein differenziertes Bild: Patient:innen müssen im niedergelassenen Bereich, sprich außerhalb des Krankenhauses, teils Einschränkungen gegenüber der zugelassenen Indikation hinnehmen, auf neue Therapien mitunter monate- oder gar jahrelang warten und haben in einigen Bereichen keine Sicherheit, ihre Arzneimittel auch in Zukunft zu erhalten. Expert:innen aus verschiedenen Bereichen des Gesundheitssystems haben deshalb diskutiert, welche Reformvorschläge umgesetzt werden sollten, um die Lage für die Österreicher:innen mittel- und langfristig zu verbessern.
„Von vielen Seiten wird seit Jahren betont, dass der Zugang zu neuen Arzneimitteln für Patient:innen in Österreich ausgezeichnet wäre und auch europaweit im Spitzenfeld liegen würde. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass die Situation für die Betroffenen im niedergelassenen Bereich nicht immer rosig ist“, sagt Leif Moll, Vizepräsident des Forums der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich (FOPI). „Das war für uns der Grund, eine genaue Analyse der österreichischen Situation gemeinsam mit der PHARMIG in Auftrag zu geben und belastbare, unabhängig ermittelte Fakten zu erhalten.“
Analysiert wurden somit vom Consulting-Unternehmen Krammer, Wrbka & Partner Consulting – zurückreichend bis ins Jahr 2015 – die grundsätzliche Verfügbarkeit neu zugelassener Wirkstoffe im niedergelassenen Bereich, die Erstattung durch die Krankenkasse, die Dauer von der Antragstellung bis zum Zugang für Patient:innen und die Einschränkungen bei der ärztlichen Verschreibung.
Die Ergebnisse des daraus erstellten Reports „Time to Patients“ lassen aufhorchen.
Verfügbarkeit: 16 % der Innovationen sind in Österreich nicht erhältlich
Die Forschung der Pharmaindustrie deckt ein breites Spektrum von Indikationen ab, in denen ein ungedeckter medizinischer Bedarf besteht – von typischen Volkskrankheiten über Krebserkrankungen bis hin zu seltenen Erkrankungen. Der von der EU gesetzte Schwerpunkt auf seltene Erkrankungen trägt auch Früchte: Fast ein Drittel der neu zugelassenen innovativen Therapien betreffen sogenannte Rare Diseases. „Aber“, erläutert KWPC-Geschäftsführerin Barbara Möller, „von 375 im Zeitraum 2015 bis 2023 zugelassenen Innovationen sind 59 – also fast 16 % – in Österreich nicht erhältlich oder es ist ihre Verfügbarkeit unbekannt.“ Freilich liegt Österreich damit immer noch im Spitzenfeld Europas, wie es für eine reiche Volkswirtschaft mit einem hoch entwickelten Gesundheitssystem auch zu erwarten ist.
Erstattung: Rund 40 % neuen Medikamente sind nicht in der Regelerstattung
„Neben der Verfügbarkeit sehen wir weiters bei der Erstattung Defizite“, betont Möller. Von den zwischen 2015 und 2023 zugelassenen Innovationen wären gut 50 % geeignet, im niedergelassenen Bereich eingesetzt und durch die Kassen erstattet zu werden. (Die andere Hälfte der neuen Arzneimittel ist für den Einsatz im Krankenhaus vorgesehen.) Doch nur 60 % davon bzw. 188 Medikamente sind auch im EKO gelistet, das heißt in der Regelversorgung. Und nur eines kann völlig frei, ohne Einschränkungen verschrieben werden.
Verschreibungskriterien: Ein Großteil der Innovationen braucht komplizierte Genehmigungen
„Außerdem bedeutet Regelversorgung nicht, dass die Medikamente immer so verschrieben werden können, wie es die Zulassung durch die Arzneimittelbehörde EMA ermöglicht, und wie in medizinischen Guidelines empfohlen wird“, so Möller weiter. „Vielmehr müssen die verschreibenden Ärzti:innen für ihre Patient:innen meist eine Genehmigung durch den chef- und kontrollärztlichen Dienst einholen. Und es gibt teils starke Einschränkungen der Verwendung: Patient:innen müssen etwa bestimmte Kriterien erfüllen („nur für schwere Fälle“). Zudem werden Medikamente oft nur als Zweit- oder Drittlinientherapie genehmigt. Oder es kann die Ersteinstellung nur in einem spezialisierten Zentrum – und somit vielleicht nicht wohnortnah – erfolgen.
„Bei den etwa 40 % der neuen Medikamente, die nicht in der Regelversorgung sind, werden die Kosten überhaupt nur in ‚medizinisch begründeten Ausnahmefällen‘ mit einer chef- und kontrollärztlichen ‚Einzelfallbewilligung‘ von den Kassen übernommen“, erläutert Möller.
Über die Jahre zeigt der Trend übrigens immer weniger Produkte, die im EKO verzeichnet sind.
Dauer bis zum Zugang: Die ‚Time to Patients‘ beträgt im Schnitt 15,5 Monate
Ernüchternd ist außerdem die Dauer, bis Innovationen für die Patient:innen in der Regelerstattung verfügbar sind und durch die SV-Träger erstattet werden. Im Schnitt braucht es 465 Tage bzw. 15,5 Monate im Median bis innovative Therapien bei den Patient:innen ankommen. „Diese Wartezeit kann für Menschen mit einem dringenden Bedarf einschneidend sein“, unterstreicht die gelernte Public Health Medizinerin Möller. „Die forschende Pharmaindustrie konnte übrigens dazu beitragen, die Produkte schneller in Österreich verfügbar zu machen und schneller die Kostenerstattung zu beantragen. Die von den Kostenträgern für die Aufnahme in den EKO benötigten Fristen sind unverändert geblieben.“
Bei den 10 Produkten mit der längsten Verfahrensdauer hat es zwischen 590 und 1.278 Tage – also mehr als dreieinhalb Jahre – vom ersten Antrag der Hersteller bis zur endgültigen Aufnahme in den EKO gedauert[1]. Jene 10 Medikamente mit der kürzesten Verfahrensdauer haben 160 bis 230 Tage gebraucht.
Behandlungskontinuität: Bei fast einem Zehntel Therapiekontinuität nicht gewährleistet
Für die Betroffenen problematisch sind nicht zuletzt die Auswirkungen von befristeten Aufnahmen in den EKO. „Derzeit haben 11 % der neuen Arzneispezialitäten für 2015-2023 nur eine befristete Aufnahme erlangt. Bei Auslaufen der Befristung kann die Therapie für Patient:innen nicht mehr regulär verfügbar sein und muss auf eine Alternative umgestellt werden. Neun Arzneimittel wurden sogar wieder aus dem EKO gestrichen“, weiß Möller. „Das bedeutet: Bei rund einem Zehntel der neuen Arzneimittel haben die Patient:innen nicht die Sicherheit, ihre Therapien auch in Zukunft zu erhalten.“
Conclusio: Überarbeitung der gesetzlichen Rahmenbedingungen nötig
„Österreich ist in puncto Zugang zu innovativen Therapien alles andere als eine Insel der Seligen“, zieht Studienauftraggeber Leif Moll ein Resümee. „Wir wollen das aber nicht kritisieren, sondern wir nehmen das zum Anlass, Lösungsvorschläge einzubringen und einen Dialog dazu einzufordern.“
„Auf den Punkt gebracht“, so Moll, „möchten wir erreichen, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen des Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetzes (KAKuG) sowie des ASVG (Erstattungskodex) unter Einbeziehung aller Systempartner:innen überarbeitet werden. Denn nur so können wir einen raschen und österreichweit einheitlichen Patient:innenzugang zu innovativen Therapien unter voller Gewährleistung der ärztlichen Therapiehoheit sicherstellen.“
Konkrete Lösungsvorschläge auf dem Tisch
Im Detail stellen die Studienauftraggeber folgende Lösungsvorschläge zu Diskussion:
- in den EKO-Prozess
- (Nutzen für Patient:innen, aber auch für das gesamte Gesundheits- und Sozialsystem sowie die Volkswirtschaft | zusätzlicher therapeutischer Nutzen (z.B. Rückgang der Symptome, Vermeiden von Folgeschäden, Ausbleiben von Nebenwirkungen, etc.) | innovative bzw. neue Darreichungsformen zur Verbesserung der Anwendung und des Patient:innennutzens)
- von sachgerechten Vergleichs- und Erfolgsparametern für Innovationen
- bei Indikationsausweitungen
- (keine Befristungen; Indikationseinschränkungen nur Guideline-konform (oder ggf. nach wissenschaftlichen Kriterien)
- des Gesundheitssystems transparenter und effizienter gestalten, um ganzheitliche Nutzenbetrachtung zu ermöglichen und finanzielle Ressourcen für Innovation freizumachen
- von Nutzenbewertung und Preisverhandlung, ähnlich wie in Deutschland – denn es ist jeweils unterschiedliche Expertise nötig
- , um den EKO-Prozess weiterzuentwickeln
- Schaffung klarer Erstattungsrichtlinien für die Industrie, um Rechtssicherheit im Interesse der Patient:innen zu haben
„Österreich darf sich nicht von der modernen Medizinentwicklung abkoppeln“
Große Bedeutung messen den Ergebnisse auch die Vertreter:innen von Patient:innen- und Ärzt:innen-Seite bei:
„Patient:innen erwarten den schnellstmöglichen und unkomplizierten Zugang sowie die Erstattung von allen zugelassenen Therapien österreichweit einheitlich – unabhängig davon, ob im niedergelassenen oder im klinischen Bereich und auch im sogenannten Nahtstellenbereich, z.B. bei Heimtherapien“, unterstreicht Elisabeth Weigand, Geschäftsführerin von Pro Rare Austria. „Das gilt natürlich auch für innovative Therapien. Der Zugang darf nicht an Diskussionen zur Kostenübernahme von verschiedenen Kostenträgern scheitern oder dadurch verzögert werden, was heute gerade bei teuren Therapien leider immer wieder der Fall ist.“
„Außerdem ist die direkte Patient:innensicht für die Nutzenbewertung unbedingt einzuholen – es geht u.a. um die Bewertung von Anwendung der Therapien, Nebenwirkungen und Lebensqualität. Die EUHTA-Verordnung soll daher auch für den EKO-Prozess in Österreich angewendet werden und damit Vertreter:innen von Patient:innen miteinbezogen werden“, wiederholt die Patientenvertreterin eine langjährige Forderung der Dachverbände für Patient:innen- und Selbsthilfeorganisationen.
Peter Fasching, Präsident der Österreichischen Diabetes-Gesellschaft, fordert zuallererst, dass Erstattungsregeln auf die aktuellen Therapierichtlinien medizinischer Fachgesellschaften Bezug nehmen sollten: „Es kann nicht sein, dass für die Erstattung von Arzneimitteln Regeln zur Anwendung kommen, die vor vielen Jahren nach Erstzulassung zwischen Anbietern und Zahlern vereinbart und dann nicht mehr gemäß aktueller Studienlage und Evidenz angepasst wurden. Denn die Medizin hat sich meist in dieser Zeit mit Riesenschritten weiterentwickelt und eröffnet womöglich neue Therapieansätze, die im alten Regularium nicht abgebildet sind. Dies trifft insbesondere Patient:innen mit chronischen Erkrankungen wie z.B. Diabetes mellitus.“
Weiters stellt Fasching die sogenannten Erstverschreibungsregeln in Frage: „Derzeit müssen beispielsweise Patient:innen mit Stoffwechselerkrankungen die Erstverschreibung einer Therapie in einer Diabetes- oder Lipid-Ambulanz erhalten. Das konterkariert die Bemühungen, die Spitäler zu entlasten. Wünschenswert wäre deshalb die Etablierung einer zweiten Versorgungsebene im extramuralen Bereich, wo innovative Arzneimittel auch von niedergelassenen Ärzt:innen ‚erstverschreiben‘ werden dürfen.“
Und auch Bernhard Rupp, Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik Kammer für Arbeiter und Angestellte für Niederösterreich, ergänzt aus gesundheitspolitischer Perspektive: „Es ist unbestritten, dass ‚die Spreu vom Weizen getrennt‘, also eine Scheininnovation von einer echten Innovation unterschieden werden muss. Dabei kann die neue europäische Nutzenbewertung doppelt hilfreich sein, denn sie kann den Nutzen außer Streit stellen und die ‚Time to Patients‘ verringern.“
„Außerdem“, so Rupp, „gibt es zweifellos Verbesserungspotenzial in mehreren Bereichen. Das System des chef-/kontrollärztlichen Dienstes ist aus meiner Sicht zum Beispiel zu überdenken, da dort ohnehin keine medizinischen Entscheidungen getroffen werden. Weiters wäre ein regelmäßiges Monitoring der Verfügbarkeit von Therapien in Österreich sinnvoll, um Entwicklungen beobachten zu können.“
In jedem Fall müsse die finanzielle Ausstattung der Krankenversicherungsträger nach Meinung des Gesundheitspolitikers „ausreichend und zweckmäßig“ sein. Denn dies sei eine Grundvoraussetzung für eine modernes Gesundheitssystem. „Österreich darf sich nicht von der modernen Medizinentwicklung abkoppeln. Innovative Therapien müssen den Versicherten, die diese brauchen, zur Verfügung stehen.“
Fotos
Fotos vom Round Table finden Sie unter
https://www.picdrop.com/mh-photography/i6zLWrNCF4
Die Präsentation und Presseunterlage steht hier zum Download zur Verfügung.
[1] Hierbei wird vom ersten Antrag bis zur Aufnahme in den EKO gerechnet. Dabei ist nicht immer die gesamte Wartezeit als Verfahrenszeit zu werten. Fiktives Beispiel: möglich ist, dass nach der ersten Antragsablehnung durch den Dachverband auf neue Daten gewartet wurde, ein nochmaliger Antrag gestellt wurde, der gegebenenfalls neuerlich abgelehnt und erst ein dritter Antrag angenommen wurde. Auch die beträchtliche Zeit bis zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts gegen eine Antragsablehnung fließt in die gesamte Wartezeit ein.