Wir brauchen eine unabhängige Medizindatenstelle und einiges mehr!

Wir brauchen jetzt rasche und mutige Schritte, vorhandene Datenbestände im medizinischen Bereich (und darüber hinaus) zusammenzuführen. Einzelne Datensätze sagen wenig über ein Gesamtsystem. Wenn wir gegenwärtige und künftige Herausforderungen auf der Basis von Evidenz (und nicht gut gemeinten Vermutungen) bewältigen wollen, müssen Politik, Verwaltung und Wissenschaft in dieser Sache zusammenarbeiten. Verknüpfte Daten sind sowohl für den Wissenschafts- als auch den Gesundheitsstandort Österreich unerlässlich. Braucht es dafür Spielregeln für den Datenschutz: jedenfalls! Sollen wir aus Sorge um mögliche Nachteile darauf verzichten? Nein, das wäre ein großer Fehler zum Nachteil aller.  Von Michael Stampfer  

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© Martin Croce

In der COVID-19 Pandemie haben wir in einen Abgrund gestarrt. Nicht nur in einen von Leid, Tod, Einschränkungen und Sorgen, sondern auch in ein tiefes Loch von Organisations-, Koordinations-, Entscheidungs- und Beobachtungsproblemen. Die Stichworte dafür müssen nicht lange gesucht werden: kaputtes Epidemiologisches Meldesystem, kein gut funktionierendes Contact Tracing, keine Verknüpfung von relevanten Datenbeständen, Zeitverluste, Faxen als Kulturtechnik, fehlende Primärdaten, wilde Narrative und vieles mehr. Die Gründe und Ursachen dafür sind langfristig und in einem weit verbreiteten Silodenken (Sozialversicherung, Ministerien, Länder …) ebenso zu finden wie in überbordenden Verwaltungsstrukturen und dem oft als Schreckgespenst eingesetzten Datenschutz. Wir schenken alle Daten mit einem simplen Klick den großen Plattformunternehmen, welche damit unser Verhalten prädiktiv steuern, außerhalb unserer Jurisdiktion sind, nicht sagen, was sie mit den Daten tun, und keine Steuern zahlen. Hingegen vertrauen wir als Souveräne unseren demokratischen Institutionen so wenig, dass jeder Versuch, Daten zu sammeln und zu verknüpfen, als Teufelswerk verunglimpft und verunmöglicht wird. Staatstragende Zünfte wie die Ärztekammer sind an vorderster Front dabei, wenn es aus Standesdenken um das Unterminieren in das Vertrauen des Staates geht. Was für eine erfreuliche Situation!

Die Wissenschaften in Österreich haben in der COVID-Krise Erstaunliches geleistet, soweit sie eben dazu in der Lage waren. Gerade sie haben unter den unzureichenden Datenbeständen und -zugängen besonders gelitten. Gerade sie haben gespürt, dass dies, gekoppelt mit mangelnder Vernetzung und unterfinanzierter Public-Health- und sozialwissenschaftlicher Sektorforschung, zu erstaunlichen Improvisationsleistungen geführt hat, um die tiefen Löcher an einigen Stellen zu überbrücken. Förderer wie meine Home Institution, der WWTF, haben versucht zu helfen, mit Rapid Response Programmen solche Brücken zu schlagen. (https://www.wwtf.at/news/news/O10535/detail/#O10535) Hunderte Forschungsgruppen in Österreich und Zehntausende weltweit haben buchstäblich alles liegen und stehen gelassen, um sich COVID-Problemen zu widmen, mit sehr unterschiedlichen Resultaten. Wie aber mein Freund Thomas König und ich in einem jüngst veröffentlichten Essay zu zeigen versuchen, sind der Aufbau und die Pflege von geeigneten Forschungs- und Datenstrukturen eine prozyklische Aufgabe, die mit Geduld und Vertrauen über Jahre und Jahrzehnte bewerkstelligt werden muss. 
(https://www.oeaw.ac.at/fileadmin/NEWS/2021/PDF/Stampfer_Michael_Koenig_Thomas_final-CD_AB.pdf).

Wir brauchen also zuerst einmal eine Stärkung der entsprechenden Forschungskapazitäten bei Universitäten und Forschungseinrichtungen. Denn ohne Data Scientists, AI-SpezialistInnen und AnalytikerInnen mit ausgezeichnetem Methodenkenntnissen der Statistik ist eine vernünftige Wissenschaft kaum mehr möglich. Beispiele dafür reichen von den Sozialwissenschaften bis zur Entwicklung von mRNA-Impfstoffen.

Dann benötigen wir den Aufbau und die Pflege von Datensätzen im öffentlichen Bereich in weitaus größerem Ausmaß als bisher und jedenfalls auch mit deutlich mehr Kontrolle, Sicherheitsstandards und demokratischer Rückbindung.

Drittens brauchen wir endlich die Novelle zum Statistikgesetz mit dem Aufbau des Austrian Micro Data Center (AMDC). Dieser Gesetzesentwurf sollte ja schon längst in die Begutachtung gegangen sein. Auf diese Weise können dann ForscherInnen einen strukturierten und für die Bevölkerung sicheren Zugang zu den Registerdaten erhalten. Mehr zu erhoffen ist zwar wichtig, aber wohl derzeit übermütig (https://www.derstandard.at/story/2000126959122/lache-bajazzo-der-tragische-tod-des-superdatenregisters).

Schließlich gibt es, ausgehend vom großartigen Datenanalyse- und Forschungszentrum Complexity Science Hub in Wien (https://www.csh.ac.at/), eine unterstützenswerte Initiative einer unabhängigen nationalen Medizindatenstelle (https://www.csh.ac.at/wp-content/uploads/2021/05/20210515NationaleMedizindatenstelleFF.pdf). Hier kann nachgelesen werden, wie eine Verknüpfung von Daten im Gesundheitsbereich für die Wissenschaft in sicherer Weise erfolgen kann und was dafür notwendig ist. Die Datenerhebung erfolgt weiterhin dezentral, die Einmeldung an die Datenstelle qualitätsgesichert. Die Medizindatenstelle, mit erstklassiger Security-Expertise ausgestattet, sorgt für höchstes Niveau hinsichtlich Datensicherheit und gewährt Nutzung nur für geprüfte, klar definierte Vorhaben auf Basis nicht individuell rückverfolgbarer Daten. Die demokratische Kontrolle einer solchen Organisation muss stark sein. Die bloße theoretische Möglichkeit des Missbrauchs darf aber umgekehrt die Errichtung des Datenstelle auch nicht verhindern.

Soll es in Österreich so etwas geben? Ja sofort! Soll es ein Verschneiden von Gesundheitsdaten auch mit Bevölkerungs- und anderen statistischen Daten geben können? Ja, unter klaren Spielregeln. Gibt es neben dem Überwachungsstaat als Gefahr für Demokratie und Wohlfahrt auch andere Gefahren, namens Blindflug und Politik aus dem Bauch heraus? Ja, die gibt es in der Tat. Werden wir uns der Digitalisierungsfrage ernsthaft stellen müssen, weil nicht alles unterm Birnbaum oder im Pressefoyer abgehandelt werden kann? Ja, und zwar besser heute als morgen.

Michael Stampfer, Geschäftsführer des Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF)