Die unerwünschten Nebenwirkungen der Krisenbewältigung

Die Ökonomin Ulrike Famira-Mühlberger ist stellvertretende Leiterin des WIFO und forscht im Bereich Arbeitsmarkt, Einkommen und soziale Sicherheit. Im Interview mit dem FOPI.flash beleuchtet sie die Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die österreichische Wirtschaft und Gesellschaft.

Frau Famira-Mühlberger, Sie sind Ökonomin mit den Schwerpunkten Soziales, Pflege und Arbeitsmarkt. Welche Auswirkungen hatte aus Ihrer ExpertInnensicht die ursprünglich dem Gesundheitsbereich entspringende COVID-19-Krise auf die gesamte Gesellschaft?

Das ist sehr vielschichtig. Insgesamt wurde diese Gesundheitskrise in Österreich bislang recht gut bewältigt. Wir hatten das Glück, dass uns die Pandemie mit einer gewissen Verzögerung getroffen hat und wir von anderen Ländern wie etwa Italien lernen konnten. Diese Zeit haben die Verantwortlichen zweifellos genutzt und sinnvolle Vorkehrungen getroffen. Außerdem kam uns zugute, dass das österreichische Gesundheitssystem sowohl im Hinblick auf die Ausstattung als auch in puncto Organisation besser aufgestellt ist als in vielen anderen Ländern.

Sind durch die Krise auch Schwächen im Gesundheitssystem sichtbar geworden?

Nun die COVID-19-Krise hat das Thema Pflege nochmal mehr in den Vordergrund gerückt. Im Großen und Ganzen ist die schwierige Balance zwischen empathischer Betreuung und größtmöglichem Schutz der älteren Menschen ganz gut gelungen. Doch es ist gleichzeitig die Problematik des Systems, das heißt vor allem die Abhängigkeit von 24-Stunden-BetreuerInnen aus dem Ausland, offenkundig geworden. Das muss mittel- bis langfristig überdacht werden. Kurzfristig konnten wir die Situation jedoch auffangen.

Doch diese Krisenbewältigung hatte auch Auswirkungen auf die Wirtschaft und viele gesellschaftliche Bereiche …

Ja, das ist richtig. Die gesundheitlich wirkungsvollen Maßnahmen hatten „unerwünschte Nebenwirkungen“, wie man im Pharmajargon sagen würde. Die Wirtschaftskrise hatte arbeitsmarktpolitische Folgen, die die Gesellschaft weiter gespalten haben. Neben der Gruppe jener Menschen, die ihren Job behalten haben, gibt es die Gruppe der Arbeitslosen und die Gruppe jener, die (noch) in Kurzarbeit sind. Vor allem für die älteren ArbeitnehmerInnen wird es in Zukunft wohl wirklich schwer werden wieder Fuß zu fassen. Aber auch die Jungen – also die Lehrlinge und die BerufseinsteigerInnen – sehen sich einer dramatischen Situation gegenüber. Und vor allem diese junge Generation macht mir große Sorgen.

Woran denken Sie da konkret? Und was müsste getan werden?

An Bildung. Die Ungleichheiten in den Bildungschancen sind durch die schulische Situation der letzten Monate verschärft worden. Insbesondere um die sozial benachteiligten Kinder, womöglich auch noch mit nicht deutscher Muttersprache, haben wir uns nicht ausreichend gekümmert. Und das ist nicht nur für die Einzelnen dramatisch, sondern auch für die österreichische Gesellschaft langfristig sozial wie auch ökonomisch problematisch.

Sie haben längere Zeit im Ausland gelebt. Erleben Sie Unterschiede im Sozial- bzw. Gesundheitssystem, die uns derzeit zugutekommen?

Meine Erfahrungen waren ehrlich gestanden sehr unterschiedlich. In Deutschland ist das durchschnittliche Versorgungsniveau gefühlt sogar noch besser als in Österreich. Die ÄrztInnen sind exzellent ausgebildet, und die Organisation verläuft effizienter. Einzig das Gesundheitskassensystem mit dem Opting-out-Modell für Gutverdienende wirft Schwierigkeiten auf. In Italien hingegen spürt man auch als Patientin die Ineffizienzen des Systems, und die Betreuung im Krankenhaus ist nicht auf dem Niveau, das wir gewohnt sind. Noch ärger ist es freilich in den USA, wo die schlechte Basisversorgung unübersehbar ist. Die enorme Zweiteilung der Bevölkerung in jene, die um gutes Geld versichert sind, und jene, die nur ein Basisnetz haben, ist aus meiner Sicht problematisch. In Summe ist das Gesundheitssystem in Österreich gut aufgestellt – was aber nicht bedeutet, dass auch wir genau hinschauen und an Verbesserungen arbeiten sollten.

Zur Person
Ulrike Famira-Mühlberger ist Ökonomin und seit 2007 im Forschungsbereich „Arbeitsmarkt, Einkommen und soziale Sicherheit“ des WIFO tätig. Seit Oktober 2019 ist sie stellvertretende Leiterin des WIFO mit Fokus auf Außenkoordination. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Pflegevorsorge, der Schnittstellen zwischen Arbeitsmarkt und Sozialem sowie der sozioökonomischen Auswirkungen der Alterung der Bevölkerung. Ulrike Famira-Mühlberger schloss im Jahr 2004 ein PhD-Programm der Sozial- und Politikwissenschaften am European University Institute in Florenz ab sowie 2002 ein Doktorat der Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien, wo sie 2010 im Fach Volkswirtschaftslehre auch habilitierte. Vor dem Wechsel ans WIFO war sie sechs Jahre lang Universitätsassistentin an der Wirtschaftsuniversität Wien im Bereich Arbeitsmarktökonomie, unterbrochen von Forschungsaufenthalten an der Harvard University, University of California – Berkeley, Università degli Studi di Torino und am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin.