Leif Moll: Wir ergreifen die Chancen der Digitalisierung nicht entschlossen genug

Um die Versorgung mit innovativen Arzneimitteln sicherzustellen, braucht es ein Umdenken von „Was kostet es?“ zu „Was bringt es?“ und ein forciertes Nutzen der Digitalisierung, meint Leif Moll, Geschäftsführer von Merck, im Interview mit FOPI.flash.

Sie konnten internationale Erfahrungen sammeln und haben zweifellos einen differenzierten Blick auf den österreichischen Gesundheitssektor. Welche Trends nehmen Sie wahr? Wie wird der Wert von Arzneimittel-Innovationen gesehen?
Österreich verfügt sicher über eines der leistungsfähigsten Gesundheitssysteme der Welt, soweit ich das überschauen kann. Das macht sich beispielsweise fest am vergleichsweise leichten und breiten Zugang zu medizinischen Leistungen in Stadt und Land und in der Qualität der erbrachten Leistungen.

Verbesserungspotenzial sehe ich vor allem entlang zweier Dimensionen: Zum einen dauert der Zugang zu Arzneimittelinnovationen zum Teil recht lange und unterliegt einem nicht immer geradlinigen Prozess. Hier geht es nicht einmal primär um Preise für Arzneimittel, sondern vor allem um ein zügiges und transparentes Vorgehen, das schnellen und verlässlichen Zugang zu medizinischer Innovation für PatientInnen in ganz Österreich sicherstellt.

Ein anderes Thema ist sicherlich – wie in weiten Teilen Europas – der Bereich der Digitalisierung. Auch wenn sich Österreich hier mit der ELGA im europäischen Vergleich sicher schon deutlich abhebt, ergreifen wir nach meinem Dafürhalten die Chancen der Digitalisierung nicht entschlossen genug. Die Gründe hierfür sind vermutlich in einem nach wie vor stark fragmentierten Gesundheitssystem, aber auch in sehr hohen Datenschutzanforderungen zu sehen, denken wir nur an die Erfahrungen mit den Corona Tracing Apps. Wir brauchen ein digitales Ökosystem, das PatientInnen, Provider und Payer vernetzt und damit die Produktivität des Gesundheitssystems erhöht und den PatientInnen maßgeschneiderte eHealth Services anbietet. Es besteht sicher kein Mangel an eHealth Solutions – woran es fehlt, ist deren Vernetzung und breite Anwendung. Sozusagen als Nebeneffekt könnte man der medizinischen Forschung einen Schatz aus Milliarden von anonymisierten Datenpunkten „aus dem Feld“ zur Verfügung stellen, der das Innovationstempo noch einmal dramatisch erhöhen dürfte. Wir müssen Digitalisierung im Gesundheitssystem als Chance und nicht als Risiko begreifen. Das ist für mich eine der zentralen Erkenntnis aus der Corona-Pandemie.

Was schätzen Sie am österreichischen System?

Wie schon angedeutet, schätze ich den niederschwelligen und nahezu unbeschränkten Zugang zu einem breitgefächerten und qualitativ hochwertigen Leistungsangebot, das praktisch der gesamten Bevölkerung zur Verfügung steht. Dies betrifft auch und gerade den Spitalsbereich.

Die Dezentralisierung im österreichischen Gesundheitsbereich – die nicht immer positiv ist – kann aktuell z.B. bei der Corona-Pandemie sicherlich einen Vorteil bieten.  Unter Kenntnis der lokalen Situation kann auf Bedürfnisse regional passend reagiert werden. Gut sieht man das bei der Corona-Test-Strategie, die im Großen und Ganzen – auch im Vergleich zum Ausland – österreichweit gut funktioniert und lokal organisiert wird. Allgemein ist hier sicherlich eine ausgewogene Mischung aus nationalen Richtlinien, enge Abstimmung von Entscheidungsträgern und Experten verschiedener Ebenen sowie lokale Adaptionsmöglichkeiten der richtige Weg. Das funktioniert in Österreich.    

Können Sie über ein Beispiel aus Ihrem unmittelbaren Bereich berichten, das sinnbildlich für Ihre Einschätzung stehen kann?

Persönlich empfinde ich die österreichische Corona-Test Strategie als ziemlich gut gelungen. Da wurde in kurzer Zeit eine beachtliche Testinfrastruktur und Logistik aus dem Boden gestampft. Das ist gut für Österreich, das Gesundheitssystem und für jeden Einzelnen. Und es klappt, wie ich persönlich bestätigen kann, zumindest in Wien sehr gut. Leider nutzen noch immer zu wenige Personen dieses Testangebot. 

Was müsste getan werden, damit die Versorgung heimischer PatientInnen mit innovativen Arzneimitteln für die Zukunft sichergestellt ist?

Wir müssen pharmazeutische Forschung und damit schlussendlich auch Arzneimittel viel weniger als Kostentreiber, sondern mehr als Investitionen in die gesellschaftliche Zukunft verstehen. Also weniger „Was kostet es?“, sondern mehr „Was bringt es?“ im Sinne guter Lebensjahre von PatientInnen, die dann auch gesellschaftlich und ökonomisch produktiv genutzt werden können. Das heißt, wir als Industrie müssen weiter hart an medizinischer Innovation arbeiten. Aber auch die staatlichen Stellen sind gefordert, deren Wert für die PatientInnen und die Gesellschaft als Ganzes in einem zügigen und stringenten Prozess zu bewerten und bereit sein, diesen Mehrwert angemessen zu honorieren. Gerade die derzeitige Pandemiesituation zeigt doch, dass diejenigen Länder, die beim Thema Impfstoffbeschaffung schnell und beherzt gehandelt haben, im Vorteil sind und mithilfe dieser Investition erheblichen sozialen und ökonomischen Mehrwert generiert haben. Hier schließt sich übrigens der Kreis zum Thema Digitalisierung: Der bislang weitgehend unberührte Datenschatz aus Real-World Anwendungsdaten könnte die klinischen Daten aus den Zulassungsstudien abrunden und helfen, den Beitrag pharmazeutischer Innovation besser sichtbar und quantifizierbar zu machen – wie gerade in Israel zu beobachten ist.

Über Merck

Merck ist ein führendes Wissenschafts- und Technologieunternehmen und in Österreich mit den Bereichen Healthcare, Life Science und Electronics vertreten. Über 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entwickeln und vermarkten am Standort Österreich hochwertige Medikamente, innovative Produkte für die Biotech- und Pharmaindustrie und für die akademische Forschung sowie Spezialchemikalien für besondere Anwendungen. Global arbeiten rund 58.000 Mitarbeiter daran, im Leben von Millionen von Menschen täglich einen entscheidenden Unterschied für eine lebenswertere Zukunft zu machen: Von der Entwicklung präziser Technologien zur Genom-Editierung über die Entdeckung einzigartiger Wege zur Behandlung von Krankheiten bis zur Bereitstellung von Anwendungen für intelligente Geräte – Merck ist überall. 2020 erwirtschaftete Merck in 66 Ländern einen Umsatz von 17,5 Milliarden Euro. Wissenschaftliche Forschung und verantwortungsvolles Unternehmertum sind für den technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt von Merck entscheidend. Dieser Grundsatz gilt seit der Gründung 1668. Die Gründerfamilie ist bis heute Mehrheitseigentümer des börsennotierten Konzerns. Merck hält die globalen Rechte am Namen und der Marke Merck. Die einzigen Ausnahmen sind die USA und Kanada, wo die Unternehmensbereiche als EMD Serono, MilliporeSigma und EMD Electronics auftreten.

Weitere Informationen: www.merckgroup.com/at-de